Nach Angaben der EU sind seit Kriegsbeginn rund eine halbe Million Russen aus ihrem Land geflohen – und die Mobilisierung verstärkt den Trend. Wer bleibt, wird mit viel Geld weggelockt.

Nach der Teilmobilisierung in Russland mehren sich die Anzeichen einer Abkehr von Russen im wehrfähigen Alter. Nach einem Run im Internet auf Flugtickets ins Ausland berichteten die Grenzschutzbeamten des EU-Landes Finnland, dass Russen häufiger ins Land einreisen. Bereits am Mittwoch, dem Tag der Bekanntgabe der Teilmobilmachung, hatten die Grenzschützer knapp über 4800 Grenzübertritte registriert, deutlich mehr Einreisen als eine Woche zuvor. Und der Grenzverkehr habe am Donnerstagabend zugenommen, sagte der Leiter der finnischen Grenzschutzabteilung.

Stundenlanges Warten an der Grenze

Auch an der Grenze zu Georgien bildeten sich lange Autoschlangen. Ein Reisender an der Grenze zur Mongolei sagte der Nachrichtenagentur AFP, er müsse 12 Stunden warten, bevor er die Grenze mit dem Auto überqueren könne. Am Flughafen Eriwan in Armenien sagten Russen der Nachrichtenagentur AFP, sie seien vor der Mobilisierung geflohen. Nach eigenen Angaben ließ der 45-jährige Dmitry Frau und Kinder zu Hause. “Ich will nicht in diesem sinnlosen Krieg sterben. Es ist ein Bürgerkrieg”, sagte er. Die Situation in Russland würde jeden dazu bringen, das Land zu verlassen, sagte ein 44-Jähriger. Sein 17-jähriger Sohn fügte hinzu: „Wir wollen nicht warten, bis wir eingezogen werden.“

Direktflüge von Moskau nach Istanbul in der Türkei und Eriwan in Armenien – wo visumfreies Reisen erlaubt ist – waren online ausverkauft. Die Preise für andere Flüge schossen in die Höhe. Laut dem Onlinedienst Google Trends wurden die Suchbegriffe „Tickets“ und „Flugzeug“ in Russland ab Mittwoch doppelt so oft wie sonst im Internet eingegeben. Die Suchanfrage „Russland verlassen“ war hundertmal häufiger als an normalen Tagen.

Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar seien eine halbe Million Russen aus ihrer Heimat geflohen, teilte die EU-Kommission in Brüssel mit. Die Regierung in Moskau wies Berichte über eine Flüchtlingsbewegung als übertrieben zurück. Nach Angaben des russischen Militärs haben sich innerhalb von 24 Stunden rund 10.000 Menschen freiwillig zum Kampf in der Ukraine gemeldet. Sie seien zu den Rekrutierungsbüros gekommen, ohne den Anruf abzuwarten, sagte ein Militärsprecher der russischen Nachrichtenagentur Interfax.

50.000 Euro im Todesfall

Unterdessen versuchen die Behörden, die Reservisten mit Geld zu überzeugen. Die russische Hauptstadt Moskau will jedem Wehrpflichtigen 50.000 Rubel (830 Euro) im Monat zahlen, sagte Bürgermeister Sergej Sobjanin. Bei schweren Verletzungen soll eine Million Rubel gezahlt werden, bei leichten Verletzungen die Hälfte. Wenn ein Soldat stirbt, erhält die Familie drei Millionen Rubel, das sind fast 50.000 Euro. Nach Angaben der Agentur TASS versprachen auch die Region Kursk und die Republik Udmurtien Geldleistungen. Allerdings haben Regionen in Russland viel weniger Geld zur Verfügung als das reiche Kapital.

Werden Demonstranten in den Krieg geschickt?

Der Kreml dementierte auch Berichte, dass tatsächlich bis zu einer Million Reservisten für eine Teilmobilmachung einberufen werden könnten. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow habe gelogen, berichteten russische Nachrichtenagenturen in Moskau am Donnerstag. Auf der anderen Seite schrieb das Online-Portal der in Russland inzwischen eingestellten Zeitung “Nowaja Gazeta”, Putin gebe dem Verteidigungsministerium freie Hand, um bis zu einer Million Männer zu mobilisieren. So heißt es in Punkt 7 von Putins Erlass vom Mittwoch. Dieser Artikel fehlte im Beitrag und wurde als “Nur für offizielle Zwecke” eingestuft. Die aus dem Exil operierende Zeitung berief sich in ihrem Bericht auf angebliche Quellen aus dem russischen Präsidialamt. Peskow selbst sagte am Mittwoch, in dem Absatz gehe es um die Zahl der Reserven.

Bisher wurden rund 1.500 Menschen bei Protesten gegen die Mobilisierung festgenommen. Ihnen droht jetzt die Einberufung zum Militär. Darauf angesprochen, bestritt Peskow nicht, dass Männer, die bei Protesten gegen die Teilmobilmachung festgenommen worden waren, zum Kriegsdienst in der Ukraine einberufen werden könnten. Laut Kreml-Sprecher ist es nicht illegal. Nach Expertenschätzungen hat die russische Armee überproportional viele Angehörige ethnischer Minderheiten in der Ukraine stationiert.