Die russische Wirtschaft wird in den kommenden Monaten und Jahren massiv unter den westlichen Sanktionen leiden. Die Bewohner der russischen Stadt Tichwin, drei Autostunden östlich von St. Petersburg, sind sehr besorgt. Die Zukunft der beiden größten Arbeitgeber der Stadt steht auf dem Spiel. Die riesige Güterwagenfabrik der russischen United Wagon Company umfasst mehr als 230.000 Quadratmeter und steht seit Monaten still, weil wichtige Fahrzeugteile nicht mehr aus dem Ausland bezogen werden. 7000 Arbeiter bangen um ihre Jobs. Auch der schwedische Möbelriese Ikea betrieb in Tichwin jahrelang eine große Möbelfabrik, die er nun verkaufen will. Lokale Medien berichten, dass Ikea bereits 500 Mitarbeiter entlassen hat, die Hälfte der Belegschaft. Ikea bestätigt Stellenabbau bei Blick. Durch den Stillstand in den beiden Fabriken sind viele Zulieferbetriebe in der Umgebung mit mehreren tausend Arbeitsplätzen arbeitslos. Ilia Matweev (33), Wissenschaftler am Labor für Soziologie in St. Petersburg, sieht schwierige Zeiten für die Region. «Wenn die beiden Fabriken nicht wiedereröffnet werden können, wird Tichwin zur Geisterstadt», sagt der Autor einer ETH-Analyse zur Lage der russischen Wirtschaft.
Die Löhne werden deutlich sinken
Laut mehreren nichtstaatlichen russischen Medien nehmen die Kriminalität und Alkoholprobleme in der Region bereits zu, da die Arbeitslosigkeit steigt. „Ich denke, die Regierung wird versuchen, eine Lösung für solche Sektoren zu finden – wie die Chinesen oder jemand anderes, der diese Unternehmen übernimmt. Eine gewisse Zuwanderung kann noch stattfinden», sagt Ökonom und Russland-Experte Vasili Astrow (47) gegenüber Blick. Er arbeitet am Institut für Internationale Wirtschaftsstudien in Wien. Doch selbst wenn es vielen Russen gelingt, ihre Jobs zu behalten, werden sie in Zukunft den Gürtel deutlich enger schnallen müssen. “In Russland war es immer so, dass in Krisenzeiten vor allem die Reallöhne sanken, nicht die Beschäftigung”, sagt Astrov. Viele Arbeitnehmer arbeiten bereits in Kurzarbeit und erhalten nur einen Bruchteil ihres Lohns. Die Analyse der ETH zeigt, dass Russland wirtschaftlich vor einer äusserst schwierigen Zukunft steht. „Das Sanktionsregime, oder besser gesagt der Krieg, beraubt das Land seiner Zukunft. Sie werden Russland Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückwerfen“, schreibt Matveev. Solche Schätzungen kommen bei der russischen Regierung nicht gut an. Infolgedessen verließ Matweew sein Heimatland und gibt seinen Aufenthaltsort nicht preis. Strategieexperte Mantovani: „Russische Reserven sind definitiv nicht motiviert“ (03:27)
Arbeitslosigkeit bald bei sieben Prozent?
Fehlende Komponenten aus dem Westen sind ein großes Problem für Russland: Die dortige Industrie ist stark abhängig von Komponenten aus dem Ausland. Weil diese fehlen, stehen fast alle Autofabriken still. Und die Produktion von Kühlschränken und Waschmaschinen hat sich laut russischer staatlicher Statistik im Juni mehr als halbiert. Die Stahlexporte sanken im Vergleich zum Vorjahr um fast 30 Prozent, die Schnittholzproduktion sogar um 80 Prozent. In großen Industriegebieten ging die Gesamtproduktion nach dem Angriff in der Ukraine deutlich zurück, in der Region Moskau um 16 Prozent und in Kaluga um bis zu 25 Prozent. Allerdings hat Russland für den Monat Juli eine Arbeitslosenquote von nur 3,9 % – das ist ein Allzeittief. Und auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dürfte in diesem Jahr nur um vier bis sechs Prozent sinken – also deutlich weniger als noch vor Monaten erwartet. Doch die beiden Zahlen täuschen, denn Arbeitslosigkeit und BIP reagieren verzögert. Viele ausländische Unternehmen, die in Russland schätzungsweise sechs bis acht Millionen Arbeitnehmer beschäftigen, zahlten ihre Angestellten weiter. Doch Unternehmen ziehen sich weiter zurück. “Andere westliche Unternehmen wie McDonald’s oder Starbucks wurden von den Russen übernommen”, sagt Vasili Astrov. Allerdings dürfte die Arbeitslosigkeit bis Ende des Jahres auf sieben Prozent steigen. Proteste in 36 russischen Städten: Video zeigt Verhaftungen in Moskau und St. Petersburg (00:47)
rückständige Technologien
Und wie von vielen Experten erwartet, dürfte auch die russische Wirtschaft im nächsten Jahr deutlich schrumpfen. Prognosen sind schwierig, zumal die von Russland veröffentlichten Daten mit großer Vorsicht zu genießen sind. Das Land meldete sogar ein bescheidenes Wachstum von 0,6 % für Juli, aber Experten bezweifeln das. Denn die Materiallager der Unternehmen leeren sich immer mehr. Die russischen Exporte sind eingebrochen und Unternehmen verdienen im Ausland deutlich weniger Geld mit dem überbewerteten Rubel. Inzwischen sinken auch die Einnahmen aus dem für Russland so wichtigen Erdgas und Öl. In den ersten sieben Monaten des Jahres erzielte Russland einen Leistungsbilanzüberschuss von knapp 7,7 Milliarden Franken. Aber jetzt hat sich das Blatt gewendet. Im August gab das Land 5,5 Milliarden mehr im Ausland aus als es einnahm. Die hohe Abhängigkeit Russlands von Öl- und Gaseinnahmen wird in Zukunft zum Problem: Der Westen wird die Importe aus Russland einstellen und die übrige Industrie ist nicht wettbewerbsfähig genug. „Russland hat in vielen Bereichen wenig oder gar kein Know-how, insbesondere in der Hochtechnologie oder der pharmazeutischen Industrie. Importe aus China werden die Situation nur teilweise entschärfen“, sagt Astrow. Auch Spezialisten verlassen das Land, was die Situation weiter verschärfen wird – sofern die Grenzen offen bleiben. Pessimistische Prognosen gehen daher sogar davon aus, dass der russische Staat in den kommenden Jahren sogar bankrott gehen könnte. Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen