Der Autor war am Montagabend bei einem Abendessen anwesend, das der deutsche UN-Botschafter David Gill für Scholz veranstaltete. Ebenfalls auf der geheimen Gästeliste: „AG“ Sulzberger, Redakteurin der New York Times, und Melinda Gates, die Milliardärin, Philanthropin und Ex-Frau des Microsoft-Gründers Bill Gates. Kehlmann muss eine besondere Beziehung zu Scholz haben. Denn am Dienstagnachmittag nahm er Scholz mit ins UN-Gebäude und beteiligte sich überraschend sogar an einem politischen Gespräch zwischen der Kanzlerin und neun Staats- und Regierungschefs der „Small Island Developing States“ (Dominikanische Republik, Suriname, Marshallinseln, Antigua u Barbuda, Tonga, St. Vincent und die Grenadinen, Guyana, Fidschi, Vanuatu). Anschließend führte der Autor die Bundeskanzlerin in den Bryant Park, einen seiner Lieblingsorte in Manhattan. Vielleicht, weil sich dort die New York Public Library befindet. Kelman lockte den Kanzler tatsächlich in die Bibliothek. Welche Bücher sie ihm dort zeigte, ist nicht bekannt. Am Abend bat Scholz ihn erneut zum Essen, diesmal im engsten Beraterkreis. Lesen Sie auch Herbstprotest in Bitterfeld-Wolfen
Warum Kehlmann? Der deutsch-österreichische Schriftsteller hat eine Wohnung in New York. Scholz hat vor Jahren Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ und andere Bücher gelesen. Offensichtlich erwartet er von Künstlern keine politische Kontinuität. Denn Kehlmann war in der Corona-Debatte die vielleicht wichtigste intellektuelle Stimme gegen einen übergreifenden Staat: „Wollen wir die Maskengesellschaft?“ fragte Kehlmann im Juli in einem Aufsatz in der FAZ und warnte vor “beliebten Zwangsinstrumenten”, die längst ihre Bedeutung verloren hätten. Kehlmann nannte Karl Lauterbach – immerhin nicht nur SPD-Genosse, sondern auch Gesundheitsminister in der Scholz-Regierung – einen „echten Populisten“, der „vor Übertreibungen und Halbwahrheiten nicht zurückschreckte“.

Die Krone spielt nur eine Nebenrolle

Scholz’ Manhattan-Spaziergang mit dem Autor soll kein politisches Statement sein, fördert aber den lang gehegten Eindruck in der Ampelfraktion, dass die Kanzlerin nur allzu gerne seinen aktiven Gesundheitsminister in der Pandemiepolitik hat der skeptische liberale Justizminister Marco Buschmann (FDP). In der UN-Generalversammlung – einer Art Jahrestreffen von Spitzenpolitikern aus aller Welt – spielt Corona lange nur eine untergeordnete Rolle. Selbst der amerikanische Präsident sagte vor wenigen Tagen, die Pandemie sei „vorbei“. Die neue große Krise ist der russische Angriff auf die Ukraine. Oder genauer gesagt: seine Folgen. Denn viele Länder des Südens sorgen sich weniger um einen Völkerrechtsbruch irgendwo in Europa als um die daraus resultierende Ernährungskrise in weiten Teilen der Welt. Dafür wird oft nicht der Kreml, sondern westliche Sanktionen verantwortlich gemacht. Lesen Sie auch Scholz arbeitet in New York an der Offensive. Seine erste Rede wird er am Dienstagabend auf einem von der EU und der Afrikanischen Union organisierten “Global Food Security Summit” halten. Die „Bilateralen“ von Solz, Treffen mit Staats- und Regierungschefs am Rande der Generalversammlung, haben einen klaren Fokus auf Entwicklungsländer. Das stellt das deutsche Protokoll vor große Herausforderungen. Einige afrikanische Führer haben keine eigenen Flugzeuge und kommen spät in New York an, nachdem sie am Montag in London am Gedenkgottesdienst für die verstorbene Königin Elizabeth II. teilgenommen haben. Scholz verspricht den Afrikanern, dass er die Bedürfnisse Europas nicht vergessen werde: Deutschland werde helfen, den Hunger zu bekämpfen und seine Versprechen einlösen, den Kampf gegen den Klimawandel im Süden mitzufinanzieren.

Scholz Rede unter besonderen Umständen

In diesem Sinne hält er seine Rede auf der Generalversammlung – und das unter besonderen Umständen. Denn Gerüchte, Putin werde in Moskau vor die Fernsehkameras treten und eine neue Phase im Ukraine-Krieg ankündigen, hatten Manhattan erreicht. Wenn in Moskau Generalmobilmachung oder Volksabstimmungen in den annektierten ukrainischen Gebieten angekündigt wurden, hätte die Kanzlerin in New York sofort reagieren müssen. Aber dann redet Putin immer noch nicht. Scholz kann also an seinem Manuskript festhalten. Es beginnt auf Englisch und wechselt nach einigen Absätzen auf Deutsch. Putins Krieg sei „eklatanter Imperialismus“ und „nicht nur eine Katastrophe für Europa“, sondern „eine Katastrophe für unsere Weltfriedensordnung, die das Gegenteil von Imperialismus und Neokolonialismus ist“. Es ist kein Zufall, dass Scholz eine Terminologie verwendet, die in vielen Entwicklungsländern tatsächlich verwendet wird, um den Westen zu beschuldigen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat wenige Stunden zuvor in seiner Rede in dieselbe Trompete geblasen, als er den südlichen Ländern zugerufen hat: „Der Imperialismus kommt nicht nur aus dem Westen!“ Lesen Sie auch Scholz begründet seine Unterstützung für die Ukraine mit der Charta der Vereinten Nationen sowie westlichen Sanktionen. Dann wird ihm klar: “Eines möchte ich hinzufügen: Kein einziger Sack Getreide wurde wegen dieser Sanktionen zurückgehalten.” Allein Russland hinderte ukrainische Getreideschiffe daran, Häfen zu verlassen, bombardierte Häfen und zerstörte Farmen. „Wer den Hunger verbieten will, muss Russlands Krieg verbieten – diesen Krieg, der auch in Ländern fern von Russland steigende Preise, Energieknappheit und Hunger verursacht.“

Bundeskanzler haben einen schlechten Ruf bei der UNO

Die letzte Rede eines deutschen Regierungschefs vor der UN-Vollversammlung liegt 15 Jahre zurück. Da Kanzler keine Staatsoberhäupter sind, sind sie im anspruchsvollen Rennen um hochkarätige Positionen auf der Tagesordnung – was Angela Merkel verhindert hat – im Nachteil. Scholz ist um 20.30 Uhr Ortszeit an der Reihe – das ist drei Uhr morgens in Deutschland. Lange nach dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan oder dem Brasilianer Jair Bolsonaro. Das Plenum ist fast leer, die meisten Nationen haben nur einen Alibi-Zuhörer auf ihren langen Bänken. Doch Scholz will diese Chance nutzen, um für seine Ampelkoalition eine wertebasierte Außenpolitik zu gestalten: „Wir müssen aber auch dort hinschauen und handeln, wo Hunderttausende in Konzentrationslagern oder Gefängnissen Leid, Misshandlung und Folter erdulden müssen – im Norden Korea, Syrien, Iran oder Weißrussland. Wir müssen hinschauen und handeln, wenn die Taliban Frauen und Mädchen in Afghanistan ihrer grundlegendsten Rechte berauben. Und wir müssen beobachten und handeln, wenn Russland in Mariupol, Bucha oder Irpin Kriegsverbrechen begeht.” Lesen Sie auch Kritik an der mächtigsten Diktatur der Erde, China, lässt er hingegen nur andeutungsweise anklingen: „Vor einigen Wochen hat uns der ehemalige Hochkommissar für Menschenrechte von der Lage der Uiguren in Xinjiang berichtet. China sollte die Empfehlungen des Hochkommissars umsetzen. Das wäre ein Zeichen von Dominanz und Macht.” Sie bringt die chinesische KP also nicht ins Schleudern, sondern versucht ihr eine Brücke zu bauen. Ein Treffen mit dem chinesischen Staatschef Xi Jingping findet nicht statt – die Chinesen sind nicht öfter nach New York gekommen als Wladimir Putin. Der einzige Kontakt der Bundesregierung mit China auf höchster Ebene ist für Mittwochnachmittag geplant, wenn Außenministerin Annalena Baerbock ihren chinesischen Amtskollegen Wang Yi trifft.

Baerbock kam mit einem Linienflug an

Bemerkenswert ist, dass die Grünen nicht mit Soltz nach New York geflogen sind, sondern wenig später mit einem Linienflug ankamen. Er hört sich die Rede von Scholz auf der Generalversammlung an. Die beiden absolvieren dann ein Nebenprogramm mit nur einer Überschneidung: Am Mittwoch wollen sie gemeinsam an einem Treffen mit jüdischen Organisationen teilnehmen. Annalena Baerbock (Grüne) folgt der Rede von Bundeskanzler Scholz Quelle: dpa/Michael Kappeler Baerbocks Extraflug wird mit organisatorischen Argumenten begründet, sorgte aber in der Ampel-Allianz für Stirnrunzeln: Bei einem kürzlichen Kanada-Besuch teilten sich Scholz und Grünen-Finanzminister Robert Habeck das Flugzeug und einen Teil des Programms. Mit FDP-Frontmann Christian Lindner reist die Kanzlerin demnächst zum G20-Gipfel nach Bali – per Flugzeug. Lesen Sie auch Zuletzt hatte Baerbock bei Fragen zur Waffenlieferung erkennbar Distanz zu Scholz gehalten – und sogar dafür gesorgt, dass ein umstrittenes Vierergespräch im Kanzleramt öffentlich gemacht wurde. Baerbock schien einige Tage daran interessiert zu sein, Scholz zur Lieferung von Panzern zu drängen – bevor er am Sonntagabend, kurz vor der Reise, in Anne Wills Talkshow auf die vorsichtigere Regierungslinie zurückkehrte. Zwischen den beiden wurde eine milde, aber interessante Änderung in der deutschen Außenpolitik vereinbart. In seiner Rede vor den Vereinten Nationen kündigte Scholz an, dass die Bundesrepublik Deutschland einen Sitz in der…